Freitag, 7. Mai 2010

Selbsterkenntnis (Atma-Vidya)

Indische Stachelbeeren
(Foto: http://en.wikipedia.org/wiki/Phyllanthus_emblica)



Selbsterkenntnis (Atma-Vidya)


Refrain:


Sieh, Selbsterkenntnis ist leicht,

sie ist ganz einfach.

Sogar für den ganz Schwachen

ist das Selbst so wirklich,

dass im Vergleich dazu eine Stachelbeere,

die man in der Hand hält,

eine reine Illusion ist.[1]


1. Wahr, stark und immer neu ist das Selbst.

Aus ihm entspringen die Phantome des Körpers und der Welt.

Wenn dieses Trugbild vernichtet ist

und keine Spur mehr davon übrig bleibt,

erstrahlt die Sonne des Selbst hell und wirklich

in der unermesslichen Weite des Herzens.

Die Dunkelheit stirbt, die Not hat ein Ende

und die Seligkeit steigt empor.


2. Der Gedanke »Ich bin der Körper« ist der Faden,

auf dem sich die verschiedenen Gedanken aneinanderreihen.

Wenn man sich nach innen wendet und fragt: »Wer bin ich

und woher kommt dieser Gedanke?«

verschwinden alle anderen Gedanken.

Das Selbst scheint dann von selbst

als ›Ich, Ich‹ in der Herzenshöhle.

Solches Selbst-Gewahrsein ist der einzige Himmel.

ist Stille, ist die Wohnstatt der Seligkeit.


3. Was nützt es, die Dinge zu erkennen

und nicht das Selbst?

Wenn man dagegen das Selbst erkennt,

was gibt es dann außerdem noch zu erkennen?

Dieses eine Licht, das in den vielen Lebewesen erstrahlt,

dieses Selbst als aufblitzendes Beusstsein

im Innern zu erkennen,

ist das Spiel der Gnade, der Tod des Egos,

und das Erblühen der Seligkeit.


4. Für jene, die sich aus den Banden des Karmas befreien

und den Geburten ein Ende bereiten wollen,

ist dieser Weg leichter als alle anderen Wege.

Bleib in dieser Stille, ohne Regung von Zunge, Geist und Körper,

und sieh den Glanz des Selbst im Innern.

Das ist die Erfahrung der Ewigkeit,

die Abwesenheit aller Furcht

und das weite Meer der Seligkeit.


5. Annamalai[2], du bist das Selbst,

das Auge hinter dem Auge des Geistes,

welches das Auge und alle anderen Sinne erkennt,

sowie den Himmel und die anderen Elemente.

Du bist das Sein, das den inneren Himmel im Herzen

enthält, enthüllt und wahrnimmt.

Wenn der gedankenfreie Geist sich nach innen wendet,

erscheint Annamalai als mein eigenes Selbst.

Zwar ist Gnade nötig und wir müssen Liebe hinzufügen.

Doch dann steigt die Seligkeit empor.


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Collected Works, 9. Aufl., 2004, S. 134f


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Muruganar hat den Refrain des Liedes geschrieben. Darin sagt er, dass nichts so offensichtlich und unmittelbar erfahrbar sei wie das Selbst. Um das zu erläutern, zieht er das bekannte klassische indische Beispiel von der Stachelbeere heran. Wenn man eine solche Stachelbeere in den Händen hält, ist sie für jeden erkennbar. Dennoch ist für diese Erkenntnis die Frucht, die Hand, die sie fühlt, die Augen und nicht zuletzt der Sehende nötig, der erkennt, dass es sich um eine Stachelbeere handelt. Die Erkenntnis ist also nur mittelbar und basiert auf dem alles umfassenden Selbst. Das Selbst dagegen ist unmittelbar erkennbar und braucht nichts, was es enthüllt. Deshalb ist im Vergleich zum Erkennen des Selbst das Erkennen der Stachelbeere, die man in Händen hält, eine reine Illusion.


Muruganar kam er an dieser Stelle nicht mehr weiter und bat Ramana, die fehlenden Verse zu ergänzen. Ramana führte das Thema weiter aus und so entstand am 27. April 1927 das Lied ›Atma-Vidya‹. Atma = das Selbst und Vidya = Erkenntnis, Wissen.



[1] Der Vergleich mit der Stachelbeere wird gern herangezogen, um zu verdeutlichen, dass etwas offensichtlich ist.

[2] Annamalai = Arunachala, bedeutet in diesem Kontext ›Gott